„In Deutschland fehlt es noch an Fantasie“ – Digital-Expertin Ava Jaff im großen Zukunfts-Interview.
Aya Jaff ist Deutschlands bekannteste Programmiererin. Mit ihrem Start-up gibt die 23-jährige Unternehmen digitale Nachhilfe. Ein Gespräch über künstliche Intelligenz, skeptische Deutsche und warum sie beim Immobilienkauf keine Roboter sehen will.

Frau Jaff, Sie gelten als die bekannteste Programmiererin Deutschlands. Immer wieder prangten Sie zuletzt auf Titelseiten, Die Zeit bezeichnete Sie gar als „Mrs. Code“. Als Vertreterin der Digital Natives sind Sie derzeit immer gefragt, wenn es um die digitale Zukunft geht. Dass Sie tatsächlich aber Ökonomie und Sinologie studieren, kommt durchaus überraschend.

Ich hatte ursprünglich ja Informatik studiert. Das Interesse an digitalen Themen kam bei mir schon sehr früh auf. Irgendwann dachte ich mir aber: So professionell will ich gar nicht coden. Das war eher ein Hobby, bei dem ich gar nicht so sehr in die Tiefe gehen wollte. Deshalb habe ich das Studium nach zwei Jahren wieder abgebrochen.

Dass Sie trotzdem zu eine der Meinungsführerinnen der Digitalbranche aufgestiegen sind, dürfte mit einer anderen Entscheidung zusammenhängen. Im vergangenen Jahr sind Sie unter die Start-Upper gegangen. Wie kam es dazu?

Ich war schon zuvor bei einem Non-Profit-Start-Up, bei dem ich als Mentorin für Jugendliche gearbeitet habe. Dort waren sehr viele Leute von den ganz großen Dax-Unternehmen aktiv, die sich alle untereinander kannten und Tipps austauschten. Irgendwann habe ich mich gefragt: Wieso professionalisiert man das nicht?

Die CoDesign-Factory war die Antwort.

Genau. Dieses Start-Up ist vor allem durch Netzwerke entstanden. Die Idee dahinter ist, dass man sich die wichtigen Informationen nicht immer nur von Beratern oder auf Konferenzen einholt, sondern diejenigen einlädt, die ein Unternehmen bereits erfolgreich aufgebaut haben, die schon ihre Ups-And-Downs hatten und daraus lernen konnten. In der CoDesign-Factory haben wir einen Pool an Leuten aus den verschiedensten Branchen gebildet. Aus diesem bunten Mix können Unternehmen dann Workshops buchen.

Wie kann man sich das vorstellen? Als eine Art digitale Nachhilfe?

Ich erkläre das mal an einem Beispiel. Ein großer Schuhhersteller hatte das Ziel mehr Tech-Talente anzusprechen. Das Unternehmen war kurz davor zwei Berater zu holen, die eine Kennzahlen- und Marktanalyse durchgeführt hätten. Allerdings hatte man damit bereits in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht. Am Ende waren damals zwar die Informationen vorhanden, man wusste aber nicht, was man damit anstellen sollte.

Also kam die CoDesign-Factory ins Spiel.

Ich habe das Unternehmen gefragt: Wieso holt ihr euch nicht einfach Thomas Bachem, den Gründer der Code-University aus Berlin? Der kennt so viele Jugendliche, die dort ihre Kurse machen, und der weiß auch, wie man diese jungen Leute ansprechen kann.

Man muss über den Tellerrand schauen.

Zahlen sind wichtig, aber Kontakte noch wichtiger. Jede Idee ist nur so stark wie das Netzwerk. Du brauchst Expertise und die verkaufen wir bei der CoDesign-Factory. Das ist ein anderer Ansatz als bei den klassischen Unternehmensberatern.

Als Schüler nimmt man sich doch eigentlich nur dann Nachhilfe, wenn man schlechte Noten schreibt. In welchen digitalen Fächern hakt es denn bei den deutschen Unternehmen?

Ich will keine Schulnoten verteilen. Das bedeutet immer, dass es einen standardisierten Test gibt, den man bestehen muss. Aber meine Erfahrung ist eine andere. Jedes Unternehmen hat andere Challenges und Aufgaben, die es meistern muss. Es geht nicht darum, was man richtig oder falsch macht, sondern was man noch viel besser machen kann. Das sind oft Innovationsthemen: Wie adressiere ich etwa die neueste Generation? Ich finde, ein 18-jähriger kann viel besser bewerten, ob er sich von der Werbung, die für 18-jährige gestaltet wurde, auch angesprochen fühlt. Expertise geht über Abschlüsse.

Was kann denn ein Mitarbeiter machen, wenn er das Thema Digitalisierung in kleinen Schritten vorantreiben und dafür ein Bewusstsein schaffen will? Oder muss das von ganz oben kommen?

Bei der CoDesign-Factory achten wir darauf, dass alle zusammenkommen. Nicht nur die Entscheidungsträger, die dann am Ende das Go für ein Projekt geben, sondern auch die Mitarbeiter, die ihre eigenen Prozesse am besten kennen. Ein Roundtable. Einmal in der Woche zusammensitzen und die Mitarbeiter fragen: Wo können wir uns verbessern? Man könnte auch Belohnungen ausschreiben für besonders gute Ideen. Die Digitalisierung betrifft jeden Zweig und jeden Mitarbeiter, deswegen sollte auch jeder mitsprechen dürfen.

Oft neigen wir in Deutschland zur Bescheidenheit. Wenn es um das Thema Digitalisierung geht, blicken wir mit Ehrfurcht nach China und bewundern, dass es dort in jeder Milchkanne einwandfreies Handynetz gibt, während wir in Funklöchern sitzen. Sind wir wirklich so schlecht?

Ich glaube schon (lacht).

Trotz all der Ingenieure, die wir immer so hochloben, trotz all der Exporte, die derzeit irre laufen, trotz der Wirtschaft, der es gut geht? Kann es wirklich passieren, dass wir in ein paar Jahren abgehängt sind?

Ja, uns geht es gut, aber wir ruhen uns im Moment auf diesen Lorbeeren aus. Die Investments in die Digitalisierung sind nicht so hoch wie in China oder in den USA. Wenn ich mit Unternehmen arbeite, die kurz vor einem größeren Investment stehen, höre ich immer dasselbe Argument: Für zwei Prozent Wachstum lohnt sich das nicht. Die fühlen sich von dem Problem gar nicht angesprochen.

Und wenn wir uns in fünf Jahren mit China messen wollen, ist es zu spät?

Dann blickt China auf uns und sagt: Die fahren ja noch mit Taxis, während wir schon Flugtaxis haben. Dafür wird Dorothee Bär in Deutschland veräppelt.

Es geht also hauptsächlich um das Mindset, das sich ändern muss?

Die großen deutschen Start-Ups gehen alle in die USA, weil sie dort große Investments bekommen. Die laufen uns davon, weil es in Deutschland an Fantasie fehlt. Schauen Sie sich doch an, was mit der Online-Bank N26 passiert ist.

N26 ist ein Berliner Start-Up, praktisch die Bank-Filiale im Smartphone. Vor Kurzem wurde das Unternehmen zum ersten deutschen Unicorn im FinTech-Bereich.

Und woher kam das große Investment? Aus den USA, nicht aus Deutschland. Das ist echt schade. Da hat sich endlich etwas Großes getan. FinTech könnte unser Steckenpferd werden, so wie Google in den USA.

FinTech wäre jetzt ein Segment, auf das man sich konzentrieren könnte. Gibt es noch eine andere Branche oder Technologie, auf die wir den Fokus legen sollten?

Ich glaube, dass wir bei der Künstlichen Intelligenz noch nicht den Anschluss verloren haben. Da liegt großes Potenzial, weil die Technologie noch in den Kinderschuhen steckt. Aber wir müssen aufpassen, dass nicht unsere komplette KI-Forschung von Google aufgekauft wird. Das könnten wir mit mehr Ausschreibungen, mehr Wettbewerben und mehr Transparenz eindämmen.

Die Künstliche Intelligenz wird derzeit überall ziemlich gehyped. Auch die Bundesregierung hat angekündigt, in diese Technologie künftig deutlich mehr investieren zu wollen. Aber wo führt uns diese KI-Reise hin?

Dazu muss man sich nur anschauen, was Google gerade vorgestellt hat: Die KI macht einen Friseurtermin aus, ohne dass der Friseur überhaupt merkt, dass er gerade nicht mit einem Menschen redet. Das ist die Vision, die ich für jeden Service sehe. Das vereinfacht ihn, macht ihn schneller und bringt ihn effizienter an den Kunden.

Aber will der Kunde das?

Der Kunde will schnell das Ergebnis in der Hand haben, das er verlangt. Wichtig ist immer die Transparenz. Es gibt Umfragen, die zeigen, dass Menschen mit viel mehr Sympathie auf Facebook-Werbung reagieren, wenn sie wissen, warum sie ihnen angezeigt wird. Sie können dann eine Connection herstellen.

Reicht das?

Wir müssen die Leute mitnehmen. Gerade die Deutschen gelten ja als ein Volk, das gegenüber neuen Technologien sehr skeptisch ist. Die digitale Zukunft wird nicht wie in China als Bereicherung angesehen, sondern ihr wird mit Angst begegnet. Das liegt aber auch daran, dass wir ihnen nicht erklären, was die Algorithmen leisten können. Diese Dinge muss man ihnen schon im Grundschulalter beibringen. Je früher man damit beginnt desto mehr Vertrauen haben die Menschen darin, dass sie die Zukunft verstehen, wenn sie da ist.

Wenn die Transparenz so wichtig ist, um den Kunden mitzunehmen, wie lässt sich das auf die Servicebranche übertragen?

Es muss immer einen Disclaimer geben, aus dem klar wird, dass man jetzt mit einem Bot und nicht mit einem Menschen kommuniziert.

Im Kundenservice arbeiten in Deutschland etwa 520.000 Leute. Das sind die Menschen, die ans Telefon gehen, wenn man eine DSL bestellen, wenn man eine Bestellung reklamieren, wenn man eine Reise buchen will. Wie viele von denen brauchen wir dann in zehn Jahren nicht mehr?

Vielleicht verdoppelt sich ja deren Anzahl aufgrund der neuen Technologien (lacht)?

Weil es dann mehr Fragen gibt?

Solche Zahlen sind wirklich schwer vorherzusehen.

Ein Drittel weniger Jobs? Eine Hälfte weniger?

Ich glaube eine Hälfte weniger ist ganz realistisch. Wir werden auch immer besser darin, den Service zu erklären. Die Unternehmen lernen, wie man etwas beschreiben muss, damit so wenige Fragen wie möglich auftauchen. Standardisierte Fragen können dann sehr einfach automatisiert gelöst werden. Mitarbeiter im Kundenservice wird es natürlich weiterhin geben, allerdings für viel speziellere Probleme.

Gehen wir mal davon aus, das trifft genau so ein, wie Sie es sagen. Irgendwann habe ich also im Callcenter einen Bot, der mir in verständlicher und einfacher Sprache erklären kann, was ich haben will. Können Sie sich vielleicht trotzdem Situationen vorstellen, in denen Digital Natives lieber mit Menschen sprechen als mit Robotern?

Beim Immobilienkauf!

Beim Immobilienkauf?

Bei den großen Entscheidungen meines Lebens will ich nicht mit einem Roboter reden. Da erwarte ich eine menschliche Connection, um zu wissen: Ist das ein gutes Investment, das ich gerade mache? Dieses Gefühl von Sicherheit, dieses Eingehen auf meine Gefühlswelt, das sollte nicht von einem Roboter übernommen werden, auch wenn er es übernehmen könnte. Man kennt das doch auch vom Autokauf, da nimmt man auch immer jemanden mit. Oder denken Sie an das Thema Flugverspätungen.

Kann die etwa kein Roboter kommunizieren?

Nein, weil Menschen gerade in solchen Situationen keinen Roboter, sondern einen anderen Menschen am Telefon haben wollen, bei dem sie sich aufregen können, dem sie erzählen können wie unzufrieden sie sind, weil sie jetzt schon seit zwölf Stunden irgendwo herumsitzen müssen.

Jetzt haben wir viel darüber gesprochen, wie Unternehmen in der Zukunft nach außen kommunizieren werden. Schauen wir uns doch mal die Unternehmen von innen an. Wie wird sich Arbeit verändern? Was wollen die Mitarbeiter der Zukunft?

Der Trend zum Home-Office ist unübersehbar. Meine Generation versteht nicht, warum man immer von 9 bis 18 Uhr im Büro sitzen muss, wenn man dieselbe Arbeit auch zuhause machen kann. Sich selbst im Job zu verwirklichen, steht für meine Altersgruppe ganz weit oben. Es wird immer unwahrscheinlicher, dass man die Top-Talente bekommt, wenn man ihnen sagt: Home-Office ist bei uns nicht möglich.

Man könnte aber aus Sicht des Kundenservices auch ganz anders argumentieren. Ich stelle mir gerade vor wie ich bei meiner Krankenkasse anrufe und deren Mitarbeiter sitzt im Kaffee. Und während ich ihm von der Diagnose meines Arztes erzähle und ihm vorrechne, dass ich nur noch ein Jahr zu leben habe, höre ich im Hintergrund wie er seinen Latte Macchiato nachbestellt. Da hätte ich jetzt kein gutes Gefühl.

Richtig, bei diesem Beispiel würde ich zustimmen. Es gibt ja auch noch andere Gründe für Arbeit im Büro. Teambuilding in Meetings zum Beispiel. Aber alles andere, bei dem ich neun Stunden alleine in meinem Büro sitze, das sollte zuhause passieren. Diese Freiheiten und dieses Vertrauen muss man seinen Mitarbeitern auch geben. Stichwort Altenpflege. Viele haben Angehörige, die zuhause gepflegt werden müssen. Da ist es absolut unverständlich, wenn ich alleine in meinem Büro sitze und stattdessen eigentlich meiner Mutter helfen könnte, die in Krücken sitzt.

Sie haben das Thema Meetings angesprochen. Aber selbst die finden nicht mehr ausschließlich im Büro statt. Welche Bedeutung hat das Thema Videokommunikation?

Die wird immer wichtiger, weil viel mehr rüberkommt als wenn ich einen Text über WhatsApp verfasse. Wie verändert sich meine Stimme? Wann mache ich Sprechpausen? Ich will auch die Mimik und Gestik meines Gegenübers mitbekommen, aber dafür muss niemand ans andere Ende der Welt reisen, das reicht per Video. Ich denke Menschen werden immer zu der Option greifen, die von der Kommunikation her klarer ist, weil das Missverständnisse verhindert, aber auch weil Sympathie so besser ankommt.

Man braucht halt ein aufgeräumtes Wohnzimmer.

Zumindest eine weiße Wand, ein Bücherregal oder ein Gemälde. Mittlerweile wird sehr viel akzeptiert.

Und der Mitarbeiter der Zukunft muss sich das Programmieren hoffentlich auch nicht mehr selbst beibringen, wie Sie es einst taten?

Ich bin sehr froh, dass ich Programmieren nicht in der Schule hatte.

Das überrascht mich jetzt.

Der Informatik-Unterricht hat mir ein völlig falsches Bild vermittelt. In meiner ersten Informatik-Stunde hat der Lehrer das Wort „Attribute“ an die Tafel geschrieben. Ein halbes Jahr lang hatte ich keine Ahnung, was das überhaupt sein soll. Verstanden habe ich es erst, als ich selbst im Internet ein Spiel programmiert habe.

Aber Sie sind nicht generell gegen Informatik-Unterricht an den Schulen?

Nein, aber es sollte projektbasierte Noten geben. Bitte nie wieder schriftliche Tests im Informatik-Unterricht, bei denen man Schere und Kleber für Copy und Paste braucht.

 

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