Helen wird wach. Dieser Begriff „Leadmanagement“ verfolgt sie nun schon im Schlaf. Leise schaut sie auf den Wecker neben ihrem Kopfkissen. 4.30 Uhr. Zu früh. „Die Leadqualität taugt nichts.“ Dieser Satz ihres Kollegen Ralf und seine entwürdigende Beweisführung, ja das Zur-Schau-Stellen ihres Scheiterns, lassen sie nicht wieder einschlafen. Kalt lächelnd hatte dieser eingebildete Kollege und Vertriebsleiter sie vorgeführt. Und Reimund Hornegger, ihr gemeinsamer Vorstand, hat sorgenvoll die Stirn in Falten gelegt, den Kopf geschüttelt und Helen ernst angeschaut. Ein schlechtes Zeichen. Eines, das ihr zum ersten Mal in ihrer Karriere bei der mittelständischen AUFZU AG wirklich Angst macht. Sie wälzt sich in ihrem Bett herum. Sie beginnt zu schwitzen. Langsam schieben sich die ersten Sonnenstrahlen am Vorhang vorbei. Zumindest das Wetter scheint an diesem Mittwoch im Juni wieder schön zu werden.
Helen
Marketingleiterin bei der AUFZU AG
Rückblick
Vor einigen Wochen hatte Helen das Team darüber informiert, dass die Einführung einer Marketing-Automation-Lösung bevorsteht. Frank – für Digitales verantwortlich – übernahm die Aufgabe, die verfügbaren Produkte am Markt zu sichten und zu bewerten. Schnelle Einführung, leichte Bedienbarkeit und schnelle Erfolge – das waren die Kriterien, mit denen sich Frank auf die Suche machte. Neben einigen kleinen deutschen Software-Anbietern standen schließlich die großen Namen der US-amerikanischen Anbieter auf der Shortlist. Da die Erfolgsgeschichten der amerikanischen Anbieter so vielversprechend waren, fiel die Entscheidung für das Produkt des Marktführers leicht. Mit der besten, bekanntesten und größten Lösung zu arbeiten, sollte schließlich verhindern, dass AUFZU an der einen oder andere Stelle scheitern könnte.
Mit wenigen Klicks war die Softwarelizenz schließlich eingekauft, die Planung der ersten Kampagne begann. Frank meinte dabei: „Wir müssen uns vom Produkt lösen. Lass uns doch eine Checkliste erstellen, wie man Garagen richtig absichert. Unser Tor ist natürlich der wichtigste Teil in diesem Konzept. Gerade letzte Woche sind hier in Unna wieder fünf Oberklasse-Wagen aus Garagen heraus geklaut worden. Das ist ein Thema, das viele interessiert.“
„Da gibt es Broschüren von der Polizei und von Versicherungen, die können wir zusammenfassen“, warf Marketing-Kollegin Carmen ein. „Meine Eltern haben letztens so einen Check des Hauses durch die Polizei machen lassen. Da haben wir bestimmt noch das Material zu Hause. Das bring ich mit.“ Helen schaut in die Runde: „Noch weitere Ideen? Dann lasst uns abstimmen, womit wir beginnen – ich finde die Idee, uns vom Produkt zu lösen gut.“ Angesichts der zur Verfügung stehenden Zeit entschied die Runde dann einstimmig, das Sicherheitsthema für den B2C-Markt aufzugreifen.
Am nächsten Tag brachte Carmen drei Prospekte der Polizei Nordrhein-Westfalen mit, die sich mit der Einbruchsicherung für das Eigenheim beschäftigten. Carmen erstellte daraus und anhand einiger ergänzender Internetrecherchen einen Text, den Jochen in einem PDF anschaulich mit schönen Grafiken illustrierte. Auf der letzten Seite des Dokuments ergänzten sie noch einige Informationen zu Sicherheitsanforderungen an Garagentore und wiesen auf einen kostenfreien Check durch einen AUFZU-Außendienstler hin. Parallel dazu erstellte Frank in der neuen Software eine Landingpage, auf der das PDF zum Download angeboten wird.
„Was ist denn eine Landingpage?“, wollte Mareike, bei AUFZU für technische Dokumentationen zuständig, wissen. „Das ist eine Seite, die so aussieht wie alle unsere Internetseiten. Die hat aber nur einen einzigen Zweck“, erklärt Frank. „Da gibt’s Informationen zu unserem PDF und ein Formular mit der Downloadanforderung. Nicht mal eine Navigationsmöglichkeit zu den anderen Seiten unseres Internetauftritts gibt’s da. Eine Sackgasse sozusagen. Einziger Ausweg ist das Formular.“ Mareike versteht: „Wir holen die Leute also auf diese Seite und dann müssen die quasi das Formular ausfüllen?“ „Ja, so geht Leadgenerierung“, bekräftigt Frank.
Am Ende des Tages blickt Helen zufrieden auf das Ergebnis. „Wir haben ein gutes Downloadangebot und eine perfekt funktionierende Landingpage. Jetzt müssen wir noch überlegen, wie wir Leute auf diese Seite bekommen, damit wir dann mit der Leadgenerierung erfolgreich sind.“ „Wie wäre es mit Google Adwords?“, fragt Frank. „Wir zahlen ja nur, wenn jemand klickt. Wenn wir beim Suchwort ,Einbruchschutz‘ inserieren, können wir im Monat 10.000 Menschen erreichen. Und wenn tausend Leute klicken, zahlen wir pro Klick rund einen Euro. Davon werden bestimmt 20 Prozent unseren Download anfordern, weil der ja wirklich gut zum Thema passt. Dann haben wir 200 Leads für 1.000 Euro – das sind pro Lead gerade einmal 5 Euro.“ Das ist doch super!“ Frank kann seine Begeisterung für diesen günstigen Weg der Leadgenerierung kaum unterdrücken. Helen überlegt und stimmt schließlich zu. „Wenn wir nur 20 Leads damit machen, sind wir mit 50 Euro pro Lead immer noch günstig. So machen wir das.“
Die Kampagne startete am 20. Mai und brachte gleich in den ersten Tagen einige Leads. Begeistert reichte Helen die Leads jeden Tag an den Vertrieb weiter; verbunden mit der Aufforderung, diesen Leads nachzugehen. Nach zwei Wochen und 40 Leads fragte sie bei ihrem Kollegen Ralf Möller, dem Vertriebsleiter einmal nach, wie es denn mit der weiteren Leadbearbeitung laufe. Möller gab sich ahnungslos: „Keine Ahnung, ich geb das ins Team weiter und die kümmern sich drum. Abschlüsse haben wir jedenfalls noch keine gemacht, das hätte ich mitbekommen“, wies er Helens Anfrage ab.
Mit dem guten Gefühl, dass das Leadmanagement bei AUFZU nun bereits nach wenigen Wochen auf einem guten Weg war, rief sie Hornegger an und bat um einen gemeinsamen Termin. Den Termin, der ihre Erfolgsgeschichte innerhalb von wenigen Minuten zu einer Geschichte des Scheiterns machen sollte.
Es geht weiter
Nach dem Aufstehen macht sich Helen auf die Suche nach Lösungen: Sie hat eine Woche Zeit, ein Konzept für die Einführung eines tragfähigen Leadmanagement-Konzepts vorzulegen. Bei einer Internetrecherche findet sie neben den Software-Anbietern einige Agenturen, die sich auf die Einführung eben jener teuren Softwarelösungen spezialisiert haben. Aber keine erweckt bei ihr den Eindruck, dass sie eine echte Hilfe wäre. Zufällig stößt sie bei ihren Recherchen auf die Content Marketing Studie „Leadmanagement“. Ein paar Klicks weiter liest sie interessiert, auf welchem Stand andere B2B-Unternehmen beim Leadmanagement sind. Sie beschließt, sich mit den Autoren der Studie über die Erfolgsfaktoren auszutauschen. Beim morgendlichen Kaffee schickt sie eine E-Mail an die Agentur in Fürth bei Nürnberg. Nur Minuten später klingelt ihr Handy. Jens, der Agenturchef, lässt sich knapp ihre Situation schildern. „Das klingt nach einer IT-Investition ohne strategische Fundierung in der Organisation“, lautet wenig später seine Einschätzung. „Aber, trösten Sie sich, Helen, das ist der Regelfall und nicht die Ausnahme.“
Im Gespräch erörtern sie gemeinsam einige Punkte, die Helen mit ihrem Team falsch gemacht hat. Es fehlt eine gemeinsame Vision von Vertrieb und Marketing, die Buyer Personas sind nicht definiert – Helen hat bis zu diesem Telefonat noch nie etwas von dem Buyer-Persona-Konzept gehört –, der Content ist für diese Zielpersonen daher auch nicht relevant. Das sind die ersten Erkenntnisse, die Helen aus dem Telefonat mitnimmt. Sie verabredet sich mit Jens zu einem Workshop in der Agentur. Ziel ist, an einem Tag die Fehler herauszuarbeiten und eine klare Roadmap für eine erfolgreiche Einführung von Leadmanagement zu beschreiben. Sie fährt kurz ins Büro, um ihre konzeptionellen Gedanken und das in der Kampagne entstandene Material mitzunehmen. Dann setzt sie sich ins Auto und fährt gen Süden, um am kommenden Tag früh und ausgeruht zum Workshop zu starten.
Sie schläft schlecht in der nächsten Nacht. Beim Frühstück im Hotel ist sie die Erste. Wenig später sitzt sie mit Jens und seinen Kollegen zusammen. Schonungslos decken die Berater die Fehler auf und nach einer knappen Stunde unterbricht Jens: „Ok, ich glaube, wir haben jetzt ein gutes Bild darüber, was Sie gemacht haben und was schiefgelaufen ist. Richten wir den Blick nach vorne. Das ist unser Arbeitsprogramm für die kommenden Stunden und ihr Projekt für die kommenden Wochen und Monate.“ Er nimmt einen Stift und schreibt auf das Flipchart:
Der Konzeptionsprozess
1. Bestandsaufnahme technischer und organisatorischer Grundlagen, Vision erarbeiten
2. Buyer Persona entwickeln.
3. Content passend zum Entscheidungsprozess schaffen.
4. Reichweite erzeugen.
5. Nurturing: Leads zu Kunden entwickeln.
6. Marketing IT.
7. Evaluation: Messen und Managen.
Punkt für Punkt gehen die Berater anschließend mit Helen diesen Projektplan durch: „Es geht um eine präzise und detaillierte Projektplanung und viel Flexibilität“, umreißt Jens. „Sobald ihr in die Phase der Content-Produktion einsteigt, werdet ihr agil arbeiten. Ihr werdet euch erreichbare Ziele setzen, werdet auf Quick wins fokussieren und Schritt für Schritt euer Leadmanagement professionalisieren.“
„Na, mit der Ansage, dass wir Learning by Doing machen, muss ich mich nicht wieder in der Firma blicken lassen“, zweifelt Helen. „Nein, ihr habt ein klares Ziel und einen Masterplan. Aber ihr werdet euch auch die Flexibilität herausnehmen, aus Fehlern zu lernen und nicht streng an eurem Plan zu hängen. Aber das Instrumentarium agiler Arbeit im Projekt können wir gerne gemeinsam bei AUFZU entwickeln und einführen“, beruhigt Jens. Helen raucht der Kopf. „Und wir haben mit der Marketing-IT angefangen. Also den sechsten Schritt vor den ersten fünf gemacht“, stellt sie kopfschüttelnd fest. „Und was verbirgt sich hinter den Begriffen Buyer Persona oder Nurturing? Das habe ich ja noch nie gehört“, offenbart sie bereitwillig ihre Ahnungslosigkeit. Sie klären die offenen Punkte und beginnen dann mit der konzeptionellen Arbeit.
„Jedes Unternehmen ist anders. Daher gibt es auch zunächst keine allgemeingültige Strategie für das Leadmanagement“, erklärt Jens. „Wir schauen uns daher zuerst eine ganze Reihe von Punkten an: Gibt es einen Vertriebsprozess? Wie viele Leads will der Vertrieb haben? Wie viele Leads kann der Vertrieb in seiner jetzigen Struktur maximal bearbeiten? Welche Qualität sollen die Leads haben?“ „Na, die wollen doch am liebsten solche, bei denen sie nur noch zur Vertragsunterschrift hinmüssen“, wirft Helen ein. Jens lächelt und fährt unbeirrt fort: „Das bringt mich zum nächsten Punkt: Wie arbeiten Vertrieb und Marketing zusammen – rein formal auf der Ebene der Organisationsstruktur aber auch ganz praktisch im Alltag? Welche IT-Systeme werden eingesetzt? Gibt es ein CRM-System? Wer produziert denn heute schon Content im Unternehmen? Was ist eigentlich ein Lead? Welche Begriffe existieren dazu im Unternehmen? Und welche Anforderungen stellt der Datenschutzbeauftragte?“
Helen zuckt zusammen. „Der Datenschutzbeauftragte?“, fragt sie. „Klar“, lacht Jens. „Wenn ihr personenbezogene Daten über eure Website erfasst, speichert und verarbeitet, muss der schon ein Wörtchen mitreden.“ „Aber wir nutzen doch nur diese Standard-Software“, wirft Helen ein. „Ja, aber verantwortlich für die Daten seid ihr selbst. Beliebte Frage an diese Software-Anbieter ist immer, wie die sicherstellen, dass Daten im Land bleiben und nicht in der Cloud auf Servern im Ausland landen. Und darum kümmert sich im Projekt dann der Datenschutzbeauftragte. Nach Sales und Marketing ist das sicherlich die drittwichtigste Person im Projekt.“ Langsam realisiert Helen, dass noch eine Menge Arbeit vor ihr liegt, bevor sie wirklich von einem erfolgreichen Leadmanagement-Projekt sprechen kann.
Am Abend fährt sie erschöpft aber glücklich wieder nach Hause. Die nächsten Tage verwendet sie darauf, einen verfeinerten Zeitplan zu den sieben Projektschritten zu verfassen, hinter den Kulissen ein informelles Gespräch mit Walter Bronski, dem Datenschutzbeauftragten der AUFZU AG, zu führen und ihre Präsentation für Hornegger vorzubereiten. Sie hat das gute Gefühl, dass sie mit der Unterstützung von Jens und seinem erfahrenen Team, nicht noch einmal eine solche Demütigung im Leadmanagement-Projekt erleben muss.